Bayreuth, den 4.2.18 2. Korinther 12,1-10

Liebe Gemeinde! 

"Das ist doch verrückt!" Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal diesen Satz gesagt haben. Vermutlich schon. Wahrscheinlich geht es Ihnen auch so wie mir: Manches kann ich nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen. So sage oder denke ich als Fußballinteressierter manchmal, wenn ich von den irrsinnigen Ablösesummen für bestimmte Spieler höre oder lese: "Das ist doch verrückt." Vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich.

Nun habe ich Worte von Paulus vorgelesen, von denen könnte man nun auch sagen: Das ist verrückt. Der Apostel redet von Entrückungen in den dritten Himmel und von einem Satansengel. Gibt es so etwas wirklich? In unserer aufgeklärten Welt ist doch kein Platz mehr für Himmel und Hölle. Und wer davon redet, setzt sich dem Verdacht aus, nicht ganz normal zu sein.

Selbst Paulus sagt: Ja, was ich hier sage, ist verrückt. Es stimmt zwar. Es ist keine Lüge, keine Übertreibung, keine Wahnvorstellung, keine Einbildung. Aber die Tatsache, dass er diese Erlebnisse hier erwähnt, nennt Paulus für verrückt. Was meint er damit?

Paulus schreibt hier an die christliche Gemeinde in Korinth. Die hat er selber gegründet. Doch nun, Jahre später, ist Paulus Folgendes zu Ohren gekommen: Es traten in der Gemeinde Männer auf, die mit ihren Erlebnissen mit der jenseitigen Welt, mit ihren Visionen und Eingebungen angaben. "Und der Paulus", so sagten sie, "der kann mit uns nicht mithalten. Der hat ja nie von solchen Erlebnissen erzählt."

Doch da meldet sich Paulus hier an dieser Stelle im 2. Korintherbrief zu Wort und sagt: "Moment mal. Was dieses Gebiet anbelangt, kann ich durchaus etwas erzählen." Und das tut er auch.

Vierzehn Jahre, bevor er diese Zeilen schrieb, wurde er in den dritten Himmel entrückt. Das heißt er befand sich, ohne zu wissen, wie das zuging, in der unmittelbaren Nähe Gottes. Dort im Paradies hörte er unaussprechliche Worte. Mehr erzählt er nicht von seinem Erlebnis. Wir hören keinen Exklusivbericht aus dem Jenseits, obwohl er sicher Einiges zu erzählen hätte.

Warum tut er es nicht? Weil er sich nicht selbst mit seinen besonderen Erlebnissen in den Mittelpunkt rücken will. Es ist ihm im Gegenteil fast peinlich, von diesen Erlebnissen berichten zu müssen. Er sieht sich dazu gezwungen. Denn es steht seine Autorität als Apostel auf dem Spiel. Paulus kommt sich wie ein Narr vor, der eine närrische Rede hält. Er will ja nicht mit Erlebnissen angeben, die nicht sein Verdienst sind. Gott hat ihm Einblicke in die jenseitige Welt geschenkt. Aber es wäre ihm am liebsten, er müsste nicht darüber reden. Deshalb beschränkt er sich auf Andeutungen.

Aber selbst die hatten es in sich. Paulus hatte Visionen von einer anderen Welt, der Welt Gottes. Gibt es das? Ist das nicht verrückt?

"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen", ist eines der knackigsten Zitate eines ehemaligen Bundeskanzlers, von Helmut Schmidt. Ich habe Menschen kennengelernt, auf die dieser Satz durchaus zutraf. Die waren Fälle für den Psychiater. Dann habe ich mit Leuten gesprochen, die mir von ihren Visionen erzählten - und es wurde mir dabei unheimlich. Dann hat mir mal ein einfaches Gemeindeglied von einer Vision erzählt, und ich dachte, ob die nicht etwas überkandidelt ist. Aber Jahre später hat sich diese Vision als Wahrheit herausgestellt.

Es gibt sie, diese besonderen Erfahrungen mit der Nähe Gottes, so wie sie Paulus hatte. Es spricht für die Echtheit seiner Erlebnisse von Paulus, dass er nicht damit angibt. Sehr persönliche und intime Erfahrungen erzählt man ja nicht überall herum.

Es werden wohl die wenigsten Christen solche Erlebnisse wie Paulus gehabt haben. Aber sie können doch, und ich meine jeder, die Nähe Gottes immer wieder spüren. Es kann eine besondere Bewahrung etwa bei oder vor einem Unfall gewesen sein, ein sichtbares Eingreifen, also ein Wunder Gottes. Bei Gottesdiensten wie bei Abendmahlsfeiern oder wenn ein Mensch bei der persönlichen Beichte die Vergebung seiner Schuld erfährt, kann jemand erfahren, dass einem Gott besonders nahe ist. Das ist schwer zu erklären. Man muss es halt erfahren. Und dann auch den Vorwurf, der dann vielleicht kommen kann, gelassen ertragen: Du bist doch verrückt.

Es gibt sie also, diese besonderen "Höhenerfahrungen" mit Gott. Aber es gibt auch besondere "Tiefenerfahrungen". Paulus meint sogar, das muss so sein. Als Gegengewicht zu seinen Offenbarungen sieht er die Demütigungen, die Gott ihm schickt. Sie verhindern, dass Paulus abhebt und in höheren Sphären schwebt anstatt auf dem Teppich zu bleiben.

Er ist nicht glücklich darüber, so gedemütigt zu werden. Aber es ist ihm lieber, als der Gefahr des Hochmuts zu erliegen. Denn, so hat es der Apostel Petrus formuliert: "Gott widersteht den Hochmütigen aber den Demütigen gibt er Gnade."

Paulus spricht von einem Pfahl im Fleisch und nennt ihn einen Engel des Satans, der ihn mit Fäusten schlägt. Natürlich sind das wieder schockierend klingende Aussagen, die einem nüchternen Menschen fremd vorkommen können. Aber genauso wie es die Wirklichkeit einer göttlichen Welt gibt, gibt es auch die Realität einer finsteren, eben teuflischen.

Ausleger der Bibel haben sich den Kopf darüber zerbrochen, was Paulus wohl meinen könnte. Ist es eine chronische Krankheit, ein Augenleiden oder Malaria? Einer meint, seine Vergangenheit habe ihn eingeholt. Er hatte ja als fanatischer Jude Christen verfolgt. Und diese Schuld wäre nun immer wieder hochgekommen, hätte ihn angeklagt und immer wieder quälend belastet. Wir wissen es nicht. Auch in diesem Punkt spricht Paulus sehr unbestimmt.

Auf jeden Fall möchte Paulus dieses furchtbare, quälende Leiden los haben. Wer leidet schon gern? Wer freut sich über Krankheit, Behinderung, seelische Belastungen oder Kummer mit anderen Menschen? Das Normale ist doch, dass ein Mensch sein Leid gerne wieder los wird. Das gleiche wollte ja auch Paulus. Er hielt es einfach nicht mehr aus, was er durchmachen musste. Deshalb flehte er Gott an, ihm doch sein Leiden wegzunehmen. Er tat es nicht nur einmal oder zweimal, sondern dreimal.

Das ist für mich nachahmenswert. All das, was uns auf dem Herzen liegt, nicht hinunterschlucken, nicht so tun, als ob wir mit all dem, was uns belastet, ganz gut alleine fertig werden. Wir werden nicht alleine mit dem Leid fertig, sondern es wird uns vielmehr fertig machen.

„Mach aus Sorgen ein Gebet“, heißt es in einem Lied von Christoph Zehendner. Das heißt: Sag alles, was dich bekümmert, Gott und bitte ihn, dass er dir hilft, dass er auch deine Last dir abnimmt.

Wir gehen mit unseren Schwächen in der Regel nicht hausieren. Und das ist auch gut so. Aber nie von seinen Schwächen zu reden, tut auch nicht gut. Deshalb möchte ich Ihnen einen guten Rat geben: Suchen Sie sich einen Seelsorger. Suchen Sie sich einen Menschen Ihres Vertrauens. Es tut gut, wenn dieser mit Ihnen betet, glaubt oder auch nur weint und die Vergebung zuspricht.

Auch ein von Gott überaus gesegneter Mann wie Paulus kennt seine Grenzen und leidet unter ihnen. So wie wir auch. Auch ein Paulus war schwach, so wie wir auch. Schwachheit kann viele Formen annehmen. Es kann eine körperliche Krankheit oder Behinderung sein, die mich in meiner Tätigkeit einschränkt. Andere leiden unter ihrer zarten seelischen Konstitution. Alles geht ihnen nahe. Hätten sie nur ein dickeres Fell! Andere neigen zur Schwermut. Hätten sie doch nur ein fröhlicheres Gemüt! Wieder andere leiden unter einer schwierigen familiären Lage. Und das Schwerste, worunter wir leiden können, ist, wenn sich nichts ändert. Wenn trotz Gebet, trotz Fürbitte, trotz Glauben alles beim Alten bleibt. So war es ja auch bei Paulus. Gott gibt uns nicht immer die Kraft, die wir uns wünschen. Das musste auch ein Paulus lernen. Gott hörte seine Bitte, aber er erhörte sie nicht.

So können auch unerhörte Gebete ein Handeln Gottes sein. Manchmal kann es uns Gott nicht ersparen, uns auch einmal weh zu tun. Bei einem Haus muss auch manchmal der alte Putz abgeschlagen werden, weil er kaputt, feucht oder mit Schimmel versehen ist. Wenn ein Haus Schmerzen empfinden könnte, würde es bestimmt laut schreien. Aber dieses Putz abschlagen kann ihm nicht erspart bleiben. Etwas Altes muss kaputt gemacht werden, damit etwas Neues entsteht.

So muss auch bei uns manchmal etwas wie ein alter Putz abgeschlagen werden. Das tut weh, aber es tut uns letztlich gut. Es tut uns vor allen Dingen gut, wenn wir uns nicht mehr auf uns selbst verlassen, auf unsere Kraft, auf unsere Fähigkeiten, auf unseren Glauben sondern ganz allein auf Gott und sein Handeln, eben auf seine Gnade.

Auch Paulus bekam keine Kraft sondern blieb schwach. Aber er bekam Gnade. Das war das das Beste für ihn.

Paulus bekam von Gott die Antwort: "Lass dir an meiner Gnade genügen. Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." Das ist keine Antwort auf die Frage nach dem "Warum?" Es bleibt das Rätsel bestehen, warum das Böse oder besser gesagt der Böse, in das Leben von Paulus eindringen durfte und weiterhin darf. Es ist keine erklärende Antwort sondern es ist ein Versprechen. Du bist nicht allein. Es gibt für dich Gnade. Es gibt für dich Kraft, gerade für dich Kraft.

"Lass dir an meiner Gnade genügen. Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." Ich mag diesen Satz. Ich habe es immer wieder mit Staunen erleben dürfen: Dieser Satz ist wahr und auch tröstlich. Die Gnade Gottes ist mächtiger als das alles, was uns fehlt. Sie ist mehr als genug.

Gott kann mich trotz meiner Schwächen gebrauchen. Und manchmal kann er mit ihnen mehr anfangen wie mit meinen Stärken. Allen Schaden eines Lebens kann er heilen. In einem Kindergebet heißt es: „Seine Gnad’ und Christi Blut machen allen Schaden gut."

In jeder Lage ist immer genug Gnade da. Wo ich schwach bin, da ist seine Stärke auch da. Wo ich schuldig geworden bin, seine Vergebung. Wo ich nicht mehr ein und aus weiß, seine Weisheit und Umsicht, wo ich in einer Sackgasse stecke, seine Hilfe. Es ist immer genug Gnade da.

Seine Gnade kann das, was uns fehlt, mehr als ausgleichen. Wenn Gott uns für seine Pläne gebrauchen will, dann sind unsere Schwächen kein Hindernis dafür, sein Ziel zu erreichen. Er gibt uns schon das, was wir brauchen. Und das kann mehr sein, als er durch unsere natürlichen Stärken erreichen kann.

Niccolo Paganini, der berühmte Geiger, trat einmal vor sein Publikum. Er wollte das Spielen anfangen. In diesem Moment bemerkte er, dass jemand sein Instrument vertauscht hatte. Er unterbrach, um nach seiner Geige zu suchen. Doch die war gestohlen. Der Dieb hatte sie gegen ein billiges Imitat ausgetauscht. Einen Augenblick war Paganini wie gelähmt vor Schreck. Doch dann trat er mit den Worten vor sein Publikum: "Ich werde Ihnen jetzt zeigen, dass Musik nicht im Instrument liegt, sondern in der Seele." Und dann spielte er, wie er noch nie zuvor gespielt hatte. Er entlockte dem minderwertigen Instrument eine Musik, die die Zuhörer in einen Taumel der Begeisterung versetzte. Der Beifall war überwältigend.

Vielleicht kommt uns unser Leben wie eine minderwertige Geige vor, aus welchen Gründen auch immer. Aber wenn uns Gott in seiner Hand hält, kann er aus unseren Gaben und Fähigkeiten etwas machen, was wir selber gar nicht für möglich gehalten haben.

Wer wir selber sind, ist gar nicht so entscheidend dafür, ob Gott uns segnen kann oder nicht. Es ist für ihn auch gar nicht so wichtig, wie viel wir gesündigt haben, wie viel in unserem Leben nicht in Ordnung ist, welche Fehler und Schwächen wir haben. Die Gnade ist mächtiger als das alles, was uns fehlt. Sie ist mehr als genug.

Man kann sogar über unsere Schuld noch mehr sagen, auch wenn es verrückt klingt. Die katholische Liturgie der Osternacht spricht von dem "Glück der Schuld". Kann man wirklich soweit gehen? Schuld ist doch etwas Schreckliches, Böses, Zerstörendes! Sicher, aber doch bringt uns unser Böses tun Gott näher als unser Gutes tun. Unsere Sünde lässt uns Gnade erfahren.

Martin Luther hat ja Ähnliches gesagt. Wie kaum ein anderer hat er begriffen und konnte er formulieren, was "Gnade" bedeutet. An einen seiner Freunde schrieb er: „Wenn du ein Prediger der Gnade bist, dann predige keine unwirkliche Gnade, sondern eine wahre; und wenn die Gnade wahr ist, dann lass auch deine Sünde wahr und nicht unwahr sein. Sei ein Sünder und sündige tapfer. Aber tapferer vertraue und glaube an Christus, der der Sieger ist über Sünde, Tod und Welt. Es genügt, dass wir durch den Reichtum der Herrlichkeit Gottes das Lamm erkennen, auch wenn wir tausend und abertausend Male am Tage Unzucht treiben oder morden.“

Wer mit diesen Worten von der Gnade Gottes Missbrauch treiben will, der soll es tun. Wer schlimme Dinge tut und sich in der Hoffnung wiegt, es werde ihm schon alles wieder vergeben werden, der liegt total falsch. Für solche Menschen sind die Sätze Luthers nicht gedacht. Sondern sie sind zum Trost für solche da, die in Sünden eingewilligt haben, vielleicht in sehr schlimme, wie sie meinen, und nun denken, für sie gäbe es keine Gnade mehr. Gerade sie dürfen glauben: Die Gnade ist immer größer, auch größer als die größte Sünde, die du getan hast oder zu der du fähig bist. Die Gnade ist immer in den Schwachen mächtig.

Gott liebt dich nicht, weil du so ein frommer und braver Christ bist, sondern er steht zu dir mit deinen Sünden und Fehlern. Seine Gnade vergibt. Und seine Gnade verändert. Seine Gnade ist mächtiger als alle Sünde und Schuld. Auch mächtiger als Ihre, als Deine Sünde und Schuld.

Amen