Bayreuth, den 15.4.18 Matthäus 5,6

"Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden." (Matthäus 5,6)

Liebe Gemeinde!

Auch wieder so ein "unmögliches" Jesuswort. Wie kann der selig, also glücklich sein, der sich nach Gerechtigkeit sehnt, also unter der Ungerechtigkeit des Lebens leidet? Muss man nicht eher wie der berühmte Urwalddoktor Albert Schweitzer sagen: "Glücklich ist der, wer eine gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis hat?" Sicher, wer über eine robuste Konstitution verfügt, der ist gut dran. Und wenn einer alles Schwere und Schlimme seines Lebens schnell wieder vergessen kann, hat er es manchmal auch leichter.

Aber Jesus nennt hier nicht die Gesunden und die Vergesslichen selig, sondern die, die ein Gespür für Gerechtigkeit haben, deshalb unter der Ungerechtigkeit leiden und sich nach Veränderung ihrer Lage sehnen.

Ich meine, Kinder haben einen besonderen Sinn für Gerechtigkeit. Das ist ja gut so. Aber manchmal ist es auch nervig. So hat ein Familienvater unter dem Gerechtigkeitssinn seiner Kinder gelitten. Als Nachtisch nach dem Mittagessen gab es ab und zu Eis. Das war natürlich heiß begehrt. Und keiner der Kinder gönnte dem anderen zu viel Eis. Das wäre ja ungerecht. So musste der Vater mit dem Metermaß das Eis abmessen, damit ja keiner auch nur einen Millimeter zuviel bekam. 

Kinder leiden darunter, wenn sie den Eindruck haben, sie werden benachteiligt. Das kann zu hause sein, wenn ein Geschwisterkind bevorzugt wird, oder in der Schule, wenn ein Lehrer bestimmte Lieblingsschüler hat und andere nicht so mag. Kinder spüren das.

Natürlich leiden auch Erwachsene unter ungerechtem Verhalten, etwa wenn bei einer Beförderung ein anderer bevorzugt wird, obwohl dieser es gar nicht verdient hat. Sie können entrüstet sein, wenn sie als Arbeiter oder Angestellter weniger verdienen als ein Kollege, der die gleiche Arbeit verrichtet.

Dann gibt es Unrecht, das uns nicht direkt betrifft, aber uns trotzdem empören kann. Da sind die Hungerlöhne der Näherinnen in Ländern wie Bangla Desh, die uns Konsumenten in den reichen Ländern billige Kleidung verschaffen. Da gibt es das himmelschreiende Unrecht in der Politik. Man kann sagen: Jedes große Reich ist durch Unrecht entstanden, das englische Weltreich wurde reich durch die Sklaverei und die Ausbeutung seiner Kolonien. Die USA entstanden auch deshalb, weil die Siedler der indianischen Urbevölkerung ihr Land wegnahmen und viele Indianer ermordet wurden. Und wir alle wissen, welches Unrecht zur Zeit des Dritten Reiches von Deutschland ausgegangen ist.

Wir alle sind, ob wir wollen oder nicht, irgendwie Nutznießer von einem Unrecht, das irgendwo geschehen ist. Wir bewundern die Frauenkirche in Dresden. Sie wurde mit Spendengelder für die durchziehenden flüchtenden evangelischen Salzburger bezahlt. Das waren 288.570 Taler, 13 Groschen und 64,4 Pfennige. Diese Spenden wurden den Flüchtlingen niemals ausgezahlt sondern dafür wurde lieber vor fast 300 Jahren eine Prachtkirche gebaut.

Ein anderes Beispiel: Wir besitzen fast alle ein Handy. Doch das Kobalt in den Akkus wurde vielleicht von Kindersklaven im Alter von 8 oder gar nur von 4 Jahren für den Hungerlohn von 9 Cent am Tag mit bloßen Händen in der Volksrepublik Kongo abgebaut. Und wir profitieren von dem Unrecht indirekt mit davon.

Wir sind verstrickt in Unrecht. Und von uns selber geht auch Unrecht aus. Wir regen uns über das Unrecht in der Welt auf. Aber genauso und noch viel mehr muss uns das Unrecht, das wir in diese Welt hineinbringen, betroffen machen.

Ein Mann leidet sehr unter der Ungerechtigkeit und Bosheit dieser Welt. Da hat er eines Nachts einen Traum: Er kommt auf einen anderen Planeten, auf dem alle in Liebe und Harmonie miteinander leben. „Welch eine wunderbare Welt!“ denkt er. „Ganz anders wie bei uns auf der Erde. Dort möchte ich für immer bleiben!“ Doch nach kurzer Zeit kommt es an dem Ort, wo er wohnt, zu Hass, Eifersucht und Streit. Enttäuscht reist er weiter. Beim zweiten Ort ergeht es ihm genauso. Auch dort vertragen sich die Menschen. Doch kurz nach seiner Ankunft kommt es auch dort zu bösen Dingen. Er reist wieder weiter. Und beim dritten Ort geschieht genau das Gleiche. Dann merkt er entsetzt: Er selbst ist die Ursache des Bösen. Er hat es auf diesen Planeten mitgebracht und nun kommt es überall, wo er hinkommt, zum Ausbruch! Erschrocken und nachdenklich wacht er auf.

Der Keim des Bösen, für jedes Böse, steckt auch in uns. Es braucht nur den richtigen Nährboden, damit es sich entwickeln, wachsen und die entsprechenden Früchte bringen kann. Und es ist gut, wenn wir darüber erschrecken, wie jener Träumende. Denn dieses Erschrecken ist die Voraussetzung für das Glück, von dem Jesus in der Seligpreisung spricht, die ich vorgelesen habe. Wer meint, er sei ein rechter Mensch, ein guter Christ, die anderen sind viel schlechter als er, den nennt Jesus nicht selig. Aber du darfst dich freuen, wenn du mit dir selber unzufrieden bist, weil du dein eigenes Versagen, deine eigene Sünde und Schuld, deine eigene Ungerechtigkeit erkannt hast und darunter leidest, dass du so bist, wie du bist. Denn nur dann sehnst du dich danach, anders zu werden. Dann wacht bei dir der Durst oder der Hunger auf nach einem anderen Leben, in dem ich selber recht bin, das heißt so lebe, wie Gott es will.

Wir alle kennen das Gefühl, wenn wir mal so richtig Hunger oder Durst haben und etwas essen, beziehungsweise etwas trinken wollen. Aber kaum jemand unter uns weiß, was wirklicher Hunger und wirklicher Durst ist, weil er vielleicht tagelang nichts gegessen oder getrunken hat. Das müssen quälende Gefühle sein. Man denkt an nichts anderes mehr, als an Essen und Trinken. So verzweifelt ist man. Und umso glücklicher ist man, wenn man seinen Hunger oder seinen Durst stillen kann.

Der bekannte französische Dichter Saint-Exupery erzählt dazu einmal ein persönliches Erlebnis: Er war während des zweiten Weltkriegs als Kurier- und Aufklärungsflieger eingesetzt. Auf einem seiner Flüge musste er in einer verlassenen Wüstengegend Afrikas notlanden. Die Maschine ging zu Bruch und Saint-Exupery irrte mit seinem Copiloten tagelang durch die Wüste. Sie waren schon fast verdurstet, als sie von vorbeiziehenden Nomaden gefunden wurden. Sie gaben den Entkräfteten kleine Schlucke Wasser zu trinken und retteten deren Leben.

Nahezu euphorisch schreibt Exupery nach diesem Erlebnis vom Wasser: "Du bist der köstlichste Besitz dieser Erde ..... Du schenkst uns ein unbeschreiblich einfaches und großes Glück.“

Seinen Durst durch Wasser stillen zu können, war für den Dichter eine unglaubliche, glücklich machende Erfahrung. Er konnte sie nur machen, weil er nicht nur ein Durstgefühl sondern richtigen Durst hatte und er wusste: Wenn ich nichts zu trinken bekomme, dann verdurste ich.

Jesus sagt nun: So soll unsere Haltung gegenüber der Gerechtigkeit sein. Er nennt den glücklich, der dieses schmerzhafte Sehnen kennt, in den Augen Gottes recht zu sein, der unter allen Umständen so leben möchte, wie er es will. Jesus meint hier nicht ein Verlangen, dass sich ein paar Punkte, ein bisschen vielleicht nur, in unserem Leben ändern sollen. Sondern es geht ihm um die Sehnsucht nach einem vollkommenen Leben. Es genügt nicht, nur dann ein christliches Leben zu führen, wenn uns danach ist, und die übrige Zeit das zu tun, was uns gefällt. Jesus spricht von der Sehnsucht, in einem ständigen Kontakt mit Gott und seinem Wort zu stehen, die Sehnsucht danach, dass er alles beeinflusst, was wir denken, reden oder tun.

Und ich denke, dass ist das Problem, das auch wir, die wir uns Christen nennen, haben: Wir schrecken davor zurück zu sagen: "Gott alles oder nichts." Wir wollen den Preis nicht zahlen. Sondern wir sagen eher: "Gott verändere mich, aber bitte noch nicht ganz. Denn eigentlich geht es mir ja ganz gut, so wie es ist." Aber glücklich werden wir dann nicht, sondern nur dann, wenn wir danach hungern und danach dürsten, wenn wir uns also zutiefst danach sehnen, anders zu werden und ein Leben zu führen, das Gott gefällt.

Einer, von dem Jesus einmal erzählte, kannte diese Sehnsucht. Sein Erbteil hatte er verschleudert und er saß nun heruntergekommen bei den Schweinen. Da entdeckte er tief in sich die Sehnsucht: ich will wieder nach Hause, wieder zurück zum Vater. Ich spreche vom verlorenen Sohn. Wir wissen, wie es weiterging: Der Junge ging wieder zurück nach hause. Und dort wartete schon der Vater, um seinen Sohn mit offenen Armen in Empfang zu nehmen. Er nimmt ihn wieder auf als seinen Sohn. So ist Gott. Genauso wie dieser Vater hat auch Gott Sehnsucht nach dir und mir. Er will mit uns zusammen sein, er wartet auf uns. Er liebt uns. Er will uns seine Gemeinschaft schenken und uns dadurch glücklich machen.

Muss man so einem Gott, der es so grenzenlos gut mit uns meint, nicht auch grenzenlos offen gegenüber sein? Kann man dem nicht alles sagen, wirklich alles? Tun wir’s doch! Schütten wir ihm unser Herz aus! Sagen wir ihm alle unsere Sehnsüchte nach Liebe, Zuneigung und Geborgenheit, unsere Sehnsucht nach einem Leben, das diesen Namen verdient. Sagen wir ihm vor allen Dingen auch alle Abgründe unserer Seele, das, worüber wir uns zutiefst schämen, was wir vielleicht noch keinem Menschen gesagt haben. Ihm können wir alles sagen, auch unsere schlimmste Sünde und Schuld. Er verachtet uns nicht. Ganz im Gegenteil. Er wartet nur auf solche Worte. Er sehnt sich nach so einem Bekenntnis. Denn dann kann er uns ja seine Liebe zeigen, die er schon immer für uns hatte. Dann kann er uns auch alle unsere Schuld vergeben. Dann kann er auch uns die Gerechtigkeit schenken, die wir selber nicht haben. Die er aber für uns hat. Sie hat einen Namen: Jesus Christus.

Ihn und seine Gerechtigkeit darf ich mir im Glauben aneignen. Die Reformatoren sprachen deshalb von der Glaubensgerechtigkeit. Luther hat dieses Ereignis mit dem bekannten Bild vom fröhlichen Wechsel beschrieben: "Das, was Christus hat, das ist Eigentum der gläubigen Seele; das, was die Seele hat, wird Christi Eigentum. Hat Christus alle Güter und alle Seligkeit, so sind sie der Seele eigen; hat die Seele alle Untugenden und Sünden auf sich, so werden sie Christi Eigentum. Hier hebt nun der fröhliche Tausch und Wechsel an." Fast herausfordernd fährt Luther fort: "Ist nun das nicht ein fröhlicher Hausstand, wenn der reiche edle Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie von allem Übel losmacht und mit allen Gütern ausstattet?" Und an anderer Stelle schreibt er: "Christus, du bist meine Gerechtigkeit, und ich bin deine Ungerechtigkeit."

Alle Güter und alle Seligkeit hat Christus für uns bereit, schreibt Luther. Alle. Und wer sich danach sehnt, bekommt dies alles auch. Wir brauchen Gott nur danach zu bitten und zu glauben, dass wir es bekommen. Und nicht zu schüchtern sein, dies zu tun. Wenn Jesus uns verspricht, das wir so leben können, wie er es haben will, dann dürfen wir ihn darum bitten.

Der Theologe Helmut Thielicke schrieb einmal: „Wir sind viel zu bescheiden in unseren Gebeten geworden. Wir bitten Gott nicht mehr um durchgreifende Änderung der Verhältnisse, sondern nur noch um Kraft. Wer in seinen Gebeten zu bescheiden ist, verrät damit, dass er Gott für einen kleinen Mann hält, der mit seinen Gaben haushalten muss und der selber nicht so kann, wie er will. Diese Beter deckt der Teufel mit seinem Sorgengeist, mit seinem Trübsinn und seinen Angstgespenstern ein, bis das bisschen Glauben wirklich zum Teufel gegangen ist. Wir winseln um das Almosen von ein bisschen Nervenkraft und Seelenruhe, während Gott ein Reich zu vergeben hat!“

Viele unter uns haben es sicher so erfahren: Wenn sie ganz am Ende waren, wenn sie ganz verzweifelt waren, und dann flehentlich zu Gott gebetet haben, hat er sie nicht im Stich gelassen. Dann musste Angst und Sorge der Ruhe und Geborgenheit weichen, dann mussten sie bestimmte Sünden nicht mehr tun sondern waren frei von Süchten und Abhängigkeiten.

Sicher: Manchmal ist es so, dass Gott uns warten lässt, oftmals unerträglich für uns warten lässt, bis er eingreift. Es scheint so, als ob sich nichts tut, ja, als ob es schlimmer wird wie vorher. Aber es scheint nur so. Manchmal führt uns Gott bis an den Rand der Verzweiflung, aber nur bis an den Rand, um dann doch einzugreifen. In einem Lied heißt es: "Wenn die Stunden sich gefunden bricht die Hilf' mit Macht herein." Am Ende wartet Seligkeit, Glück auf uns.

Und selig sind die jetzt schon, die sich danach sehnen, ein anderer Mensch zu werden, ganz neu zu werden, um in Gottes neue Welt hineinzupassen. Jesus macht alles neu. So hat er es versprochen. Und er wird es tun, auch bei dir, der du dich danach sehnst.

Amen